Kindheit und Jugend eines Comedian Harmonists - Erich A. Collin
Die Einmaligen
Annäherung an ein Gesangsensemble Teil 1
Seit 100 Jahren sind ihre Lieder in unserem kollektiven Gedächtnis: Der “kleine grüne Kaktus”, “Wochenend und Sonnenschein”, “Veronika, der Lenz ist da”. Fast jeder hat diese Melodien im Ohr, und vor dem inneren Auge der meisten Menschen entsteht beim Gedanken an den kleinen grünen Kaktus sofort ein Bild von namen- und gesichtslosen Männern in Fracks. Ihre Stimmen hat jeder im Ohr, aber nur wenige wissen, wer diese Männer waren, die in den frühen 30er Jahren zum Exportschlager der Weimarer Republik wurden. Bis zu den Scorpions und Tokio Hotel waren die Comedian Harmonists die erfolgreichste und populärste deutsche Musikgruppe. Als ihr Bariton, Roman Cycowski, 1998 als letzter fast 100jährig starb, war darüber in Zeitungen weltweit zu lesen.
Erich Collin, der zweite Tenor der Gruppe, der als letzter dazu stieß und als erster starb, kam bisher in den meisten Veröffentlichungen zu kurz. Als in den 70er Jahren eine Fernsehdokumentation über die Comedian Harmonists gedreht wurde, war er bereits seit 15 Jahren tot, und seine Frau, die zum zweiten Mal verheiratet war, wurde in Hörweite ihres neuen Gatten interviewt. Seine Schwester, die für den Film ebenfalls interviewt wurde, hatte ihn seit 1940 nur einmal gesehen. Auch in anderen Veröffentlichungen wurde Collin recht stiefmütterlich behandelt, obwohl seine unverkennbare Stimme ganz entscheidend zum Gesamtklang der CH beitrug und auch in den bekanntesten Liedern der Gruppe prominent in Erscheinung tritt. Jeder, der den Kaktus kennt, kennt Erich Collins Stimme. Erstaunlicherweise wurden und werden seine Solo-Gesangspassagen oft Harry Frommermann zugeschrieben, der gar nicht singen konnte und nur in Instrumentalimitationen und gesprochenen Passagen zu hören war. Aus diesem Grund widme ich diesen Artikel Erich Collin. Er entstand zwischen dem 26.5.2020 und dem 24.10.2021.
„Die Welt, in der er lebte, war die Welt der Farben, Formen und Musik“
Erich Adolf Max Abraham wurde am 26. August 1899 in Berlin geboren. Sein Vater war ein damals berühmter und angesehener Kinderarzt jüdischer Abstammung, Dr. Paul Hermann Abraham. Dessen Eltern, Adolph und Anna-Sophie Abraham, geborene Waldeck, stammten ursprünglich aus dem damals zum Deutschen Reich gehörenden Teil des heutigen Polens. Für Adolph Abraham, Jahrgang 1826, wird noch das heutige Gdansk als Geburtsort angegeben, während seine Frau 1836 in Berlin zur Welt gekommen war. Ihr Sohn, der spätere Dr. Paul Abraham, wurde am 25. Mai 1862 in Berlin geboren. Er heiratete die 1865 geborene Johanna Elisabeth „Elsbeth“ Collin aus einer Berliner Verlegerfamile, mit der zusammen er fünf Kinder hatte: Ilse Charlotte Marie (geb. 1892), die Zwillinge Peter Paul und Bruno (geboren 1994) die beide bald nach der Geburt starben, Erich Adolf Max (1899) und Anne-Marie (Schreibweise laut Geburtsurkunde) (1901).
Grabstätte der Großeltern von Erich Collin auf dem Jüdischen Friedhof in der Schönhäuser Allee, Berlin |
Dr. Paul Abraham war laut seiner Tochter Anne-Marie zusammen mit der jüdischen Frauenrechtlerin Adele Schreiber Mitbegründer der „Deutschen Gesellschaft für Mutter- und Kindesrecht“ und außerdem Mitglied der Gesellschaft für Kinderheilkunde, und setzte sich für die Rechte und Interessen von Müttern und Kindern ein. Er arbeitete in einem Krankenhaus in Moabit und sorgte dafür, dass es seinen Kindern an nichts fehlte. In Neu-Babelsberg betrieb er ein privates Erholungsheim, Haus Birkeneck, für Kinder aus den Armenvierteln Berlins, in dem auch seine eigenen Kinder oft an Wochenenden oder in den Schulferien zu Besuch waren und dort Umgang mit diesen Kindern hatten, was sicher zu ihrer Charakterbildung beitrug. Laut Anne-Marie bekamen sie dort auch eine „sehr intime Erziehung“ da diese Kinder Dinge wussten, von denen die behüteten Abraham-Kinder keine Ahnung hatten.
Die Ehe der Abrahams wurde 1904
geschieden. Paul Abraham blieb jedoch weiterhin eine wichtige Präsenz im Leben
seiner Kinder, die er regelmäßig sah, obwohl er noch zwei weitere Male
heiratete.
Elsbeth Abraham zog mit den
Kindern in eine große Wohnung an den Lützowplatz in die damalige Maaßenstraße.
Nach der Scheidung nahm sie wieder ihren Mädchennamen an, und sie und die
Kinder nannten sich nun Abraham-Collin. Sie war schon vor Erichs Geburt zum
Protestantismus übergetreten, und auch die Kinder waren (laut Aussage von
Anne-Marie Collin) evangelisch getauft (auch laut Angabe von Erich auf dem
Einreiseantrag für Australien). Die ganze Familie Abraham-Collin hatte keinen
Bezug zum Judentum, und es spielte keine Rolle in ihrem Leben. Erichs späterer
Kollege Erwin Bootz erwähnt sogar, dass Erich „empfindlich gegen alles
prononciert Jüdische“ war.
Die Scheidung traf Elsbeth Collin
hart, ihr blieben „nur ein paar Freundinnen“, das gesellige Leben an der Seite
ihres Mannes – der unter anderem mit Albert Einstein befreundet war – kam zum
Erliegen. Sie heiratete nicht wieder. Als Hausfrau und Mutter von drei Kindern
hatte sie kein „eigenes Leben“. Sie war wohl was man heute eine
Helikopter-Mutter nennen würde, zumindest hat es Anne-Marie so beschrieben. Sie
bezeichnet ihre Jugendzeit als „nicht so glücklich“, als Folge der Scheidung
ihrer Eltern. Trotzdem
scheinen beide Eltern alles getan zu haben, ihren Kindern trotz der Umstände
eine glückliche Kindheit zu ermöglichen.
Die Collins waren eine sehr
musikalische Familie. Die Kinder hatten eine Gouvernante aus der Schweiz,
genannt Sello, mit der sie französisch sprechen mussten und die auch viele
französische Lieder mit ihnen sang. Laut Anne-Marie liebten sie alle Sello sehr
und als Erwachsener besuchte ihr Bruder sie. Erich sang bereits als Kind viel
und gerne und wirkte bis zum Stimmbruch bei Schulaufführungen mit, während
Anne-Marie Klavier spielte. Auch ihre Mutter spielte Klavier und sang, so dass
in der Familie oft und gern musiziert wurde. Erich lernte außerdem seit seinem
11. oder 12. Lebensjahr Geige bei einem Lehrer namens Herr Ruf. Anne-Marie erzählt,
dass er jeden Tag üben musste, und dabei oft auch Schallplatten benutzte, zu
denen er die Violinstimme spielte. Bei der Gelegenheit versteckte er auch seine
Zigarettenstummel unter dem Teppich. Aufgrund des geringen Altersunterschiedes
von nur zwei Jahren standen sich Anne-Marie und Erich besonders nahe. Außer der
gemeinsamen Liebe zur Musik spielten sie auch gern Tennis zusammen, ein Hobby
das Erich noch viele Jahre später ausübte. Und natürlich besuchten sie ihren
Vater in seinem Kinder-Erholungsheim, und hatten stets neue Spielgefährten.
Dieser häufige Wechsel im Umgang und die Begegnungen mit Kindern aus einer ganz
anderen sozialen Schicht, trugen möglicherweise viel zu Erichs späterer
Anpassungsfähigkeit und oft erwähnter Friedfertigkeit bei. Bei den Comedian
Harmonists spielte er später oft die Rolle des Vermittlers und Schlichters.
Trotz ihrer nach ihrer Aussage
nicht sehr glücklichen Jugend berichtet Anne-Marie von einigen Anekdoten ihren
Bruder betreffend, die durchaus das Bild einer idyllischen und unbeschwerten
Kindheit zeichnen. Einmal soll Erich der Kaiserin, als sie im Tiergarten aus
ihrer Kutsche stieg, um ein wenig spazieren zu gehen, mit den Worten „Guten
Tag, Frau Kaiserin!“ eine schmutzige Kinderhand gegeben haben, sehr zum
Entsetzen seiner Mutter. Es bleibt anzunehmen, dass Kaiserin Auguste Viktoria,
selbst Mutter von sieben Kindern, die kleine Episode weniger schockierend fand
als Elsbeth Collin.
Erich besuchte ab 1909 das
Mommsen-Gymnasium in Charlottenburg, war aber nach Anne-Maries Aussagen kein
besonders guter Schüler, da er sich ausschließlich für Musik, Zeichnen und
Basteln interessierte. Das kann nicht ganz den Tatsachen entsprechen, da Erich
im Laufe seines Lebens immerhin auch sechs Sprachen erlernte. Seine Liebe aber
gehörte ganz klar den musischen Fächern, wobei sein zeichnerisches Talent
genauso groß wie sein musikalisches gewesen sein soll. Anne-Marie betont seine
Begeisterungsfähigkeit und förmliche Besessenheit wenn er in ein handwerkliches
oder zeichnerisches Projekt vertieft war. Besonders gern bastelte er Flugzeuge
aus Papier oder Holz die er am folgenden Tag zur Ratlosigkeit seiner Lehrer in
die Schule mitnahm.
Trotz ihrer eigenen Musikalität
war seine Mutter war nicht allzu angetan von Erichs künstlerischen Bemühungen,
denn sie war sehr darauf bedacht ihre Kinder mit großer Disziplin zu erziehen.
Es war ihnen beispielsweise verboten, am Vormittag zu lesen oder zu spielen –
an den Vormittagen hatten sie zu arbeiten, selbst an den Wochenenden oder in
den Ferien. Zudem sollte ihr Sohn auf keinen Fall einen künstlerischen Beruf
ergreifen.
Anne-Marie erzählt wie Erich den
Entschluss fasste, Musik zu studieren – ein Ziel, das er erst nach vielen
Kämpfen erreichen würde. Die Kinder waren mit ihrer Mutter nach Bayern in die
Ferien gefahren, und saßen in einem Kaffeehausgarten wo eine Sängergruppe
bayerische Volkslieder zum Besten gab. Während der Pause kletterte Erich auf die
Bühne und begann, die französischen Lieder zu singen, die er von ihrer
Schweizer Gouvernante gelernt hatte, während Anne-Marie ihn auf dem Klavier
begleitete. Die beiden heimsten reichlich Applaus ein, aber wieder einmal hatte
Erich seine Mutter in tiefe Verlegenheit gestürzt, was er allem Anschein nach
mit einiger Regelmäßigkeit zu tun pflegte. Leider hat Anne-Marie nicht
berichtet, wann sich diese Episode zutrug. In jedem Fall machte das Erlebnis
auf Erich solchen Eindruck, dass er an diesem Tag in Bayern beschloss, Sänger
zu werden.
Als Gymnasiast wurde Erich im
ersten Kriegswinter wie seine Mitschüler unter anderem zum Schneeschippen auf
dem Kurfürstendamm aufgefordert. Weil sie bei der Arbeit ins Schwitzen kamen,
hingen die Schüler ihre Wintermäntel an die Bäume, und Erich, der schon damals
etwas zerstreut war (als Erwachsener sollte er später einmal seine junge
Ehefrau in einer Hotellobby vergessen), vergaß mehr als einen Mantel in den
Bäumen. Auch das dürfte seine Mutter nicht mit Begeisterung aufgenommen haben.
Seine Schwester erwähnt in ihrem Gespräch mit Eberhard Fechner mehrmals Erichs
Schusseligkeit und Verträumtheit, und die Tatsache, dass die ältere Schwester
Charlotte ihn als „dusselig“ bezeichnete.
Während eines Kriegssommers
musste Erich mit seinen Schulkameraden auf einem Gut nahe Berlin Kartoffeln
graben. Als ihn die Dame des Hauses aber bei der Arbeit singen hörte, bat sie
ihn ins Haus und von nun an sang Erich mit ihr zusammen im Haus, anstatt
Kartoffeln zu graben. Danach begann er sich ernsthafter um seine
Gesangsausbildung zu bemühen.
Anne-Marie Collin zeichnet in
ihrem Interview mit Eberhard Fechner das Bild eines verträumten, zerstreuten
Jungen beziehungsweise jungen Mannes, der in seiner eigenen Welt lebte – der
Welt der Töne und Farben -, der aber dennoch kein Eigenbrötler oder Einzelgänger
war, sondern ein umgängliches Naturell besaß und leicht Freundschaften schloss
und mit den meisten Menschen gut auskam.
Laut Anne-Marie waren alle ihre Freundinnen in Erich verliebt, was durchaus nachvollziehbar scheint:
Die beiden jüngsten Collin-Geschwister tauchten überall zusammen auf, unter anderem auch auf ihrem ersten Ball im Jahr 1917 im Haus des späteren Chemienobelpreisträger Fritz Haber (deutscher Chemiker, Nobelpreisträger für Chemie 1918, *9. Dezember 1868 in Breslau; † 29. Januar 1934 in Basel). Die ältere Schwester Charlotte war schon mit 17 Jahren nach München gegangen, um dort Latein und Altgriechisch zu studieren. Im Jahr 1915 heiratete sie den Schweizer Assistenten ihres Vaters, Dr. Martin Ernst Naef.
Nach seinem Abitur herrschte noch
immer Krieg in Europa, so dass Erich eingezogen wurde. Er absolvierte seine
Grundausbildung in der Nähe von Berlin, jedoch war der Krieg glücklicherweise
zu ende bevor er an die Front gemusst hätte, und er konnte sich seiner
Zukunftsplanung und dem Wunsch, Musik zu studieren, zuwenden.
Natürlich hatte sein Vater andere
Vorstellungen. Bei aller Fortschrittlichkeit und modernen Haltung, die man Dr.
Paul Abraham durchaus zuschreiben kann, wollte er doch nicht, dass sein Sohn
eine brotlose Kunst erlernte. In dieser Hinsicht waren sich beide Eltern einig,
und Erich begann im November 1918, mehr oder weniger gezwungenermaßen Medizin
zu studieren.
Über Erichs Studienjahre ist
leider nur sehr wenig bekannt, aber er brachte es immerhin auf sieben Semester
Medizin, bevor er 1922 das Studium zur vermutlich großen Enttäuschung seiner
Eltern abbrach. Anscheinend hatte sich sein Vater aber zu diesem Zeitpunkt
damit abgefunden, dass Erich nicht in seine Fußstapfen treten würde und das
ersehnte Musikstudium schien nun in Reichweite. Allerdings bestand Dr. Abraham
immer noch darauf, dass Erich zunächst etwas Vernünftiges lernen sollte, und so
endete der musisch so begabte junge Mann als Banklehrling in Steglitz. Hier
offenbart sich ein Charakterzug an Erich, der in seinem späteren Leben
unglaublich wertvoll sein sollte. Obwohl ihm die Schreibtischarbeit verhasst
war, berichtet Anne-Marie darüber, dass die Zeit in der Bank für ihn eine
glückliche war und dass er äußerst beliebt war, und viele Freundschaften
schloss. „…alle haben ihn sehr gern gehabt.“ Es gelang ihm also sich in einer
durchaus unerwünschten und für ihn wohl sehr frustrierenden Situation
einzufügen und sogar glücklich zu werden. Diese Fähigkeit wird auch später von
seinen Kollegen hervorgehoben.
Trotzdem hielt er an dem Traum
vom Musikstudium fest. Anfang der zwanziger Jahre herrschte in Deutschland
Inflation und auch die Familie Collin/Abraham wurde finanziell schwer
getroffen, was zum Umzug in eine kleinere Wohnung führte. 1923 starb Dr.
Abraham im Alter von nur 61 Jahren.
Damit war für Erich der Weg frei zum ersehnten Studium an der Musikhochschule, wo er von 1923 bis 1927 oder 1929 - die Quellen sind sich hier nicht ganz einig - Violine und Gesang (bei dem bekannten Konzertsänger und Gesangspädagogen Julius von Raatz-Brockmann (29. April 1870 in Hamburg; † 7. Dezember 1944 in Perleberg, deutscher Konzertsänger und Gesangspädagoge. Seit 1923 Professor an der Hochschule für Musik in Berlin) studierte. Laut Dietmar Schenks Buch "Die Hochschule für Musik zu Berlin: Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und Neuer Musik, 1869 – 1932/33" (Seite 236) war er einer der besten Schüler der Gesangsklassen und trat regelmäßig als Solist bei Aufführungen der Hochschule auf. Am 3. Mai 1928 wirkte er bei der Eröffnung der Rundfunkversuchsstelle der Hochschule mit, einem Projekt, das eine Annäherung zwischen Musik und den neuen technischen Möglichkeiten der Zeit ermöglichen sollte. Außerdem trat er bei einer Rigoletto-Aufführung der Hochschule auf, sowie im Juli 1928 bei einem Liederabend mit der später sehr bekannten Sängerin Paula Lindberg (Paula Salomon-Lindberg, geb. Levi, 21. Dezember 1897 in Frankenthal; † 17. April 2000 in Amsterdam), die ebenfalls bei Raatz-Brockmann studierte.
Seine Mutter erhoffte sich für
ihn eine Karriere in der klassischen Musik, aber da hatte sie die Rechnung ohne
einen Kommilitonen ihres Sohnes namens Erwin Bootz gemacht.
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