Ein merkwürdiges Ensemble

Die Einmaligen

Annäherung an ein Gesangsensemble Teil 2


Erich Collins Studienkollege Erwin Bootz gehörte seit dem Frühling 1928 zu einer Gruppe junger Männer, die beschlossen hatten, ein Gesangsensemble nach dem Vorbild der amerikanischen „Revelers“ zu gründen. Die Geschichte ist mehr oder weniger bekannt: im Dezember 1927 hatte der damals gerade erst volljährig gewordene ehemalige Schauspielschüler Harry Frommermann – er hatte die Schauspielschule wegen Disziplinlosigkeit verlassen müssen – eine Anzeige im Berliner Lokalanzeiger aufgegeben, deren Wortlaut legendär geworden ist:

„Achtung. Selten. Tenor, Baß (Berufssänger, nicht über 25), sehr musikalisch, schönklingenden Stimmen, für einzig dastehendes Ensemble unter Angabe der täglich verfügbaren Zeit gesucht. Ej. 25 Scherlfiliale, Friedrichstr. 136.“

Sein Ziel war eine Gruppe aufzubauen, die im Stil der Revelers den deutschen Markt erobern sollte. Die Revelers machten in den 20er Jahren mit ihrem perfekten A-Cappella-Gesang und neuartigen Arrangements Furore, und es gab in Europa nichts Vergleichbares. Harry Frommermann, ein Kantorensohn aus Berlin, bewunderte sie sehr.

Sein Vater Alexander Frommermann, ursprünglich aus der Ukraine stammend, hatte Gesang studiert, war – wenn auch nicht immer mit großem Erfolg - in Opern aufgetreten und wurde 1894 Kantor in Berlin. Später gründete er die „Erste Internationale Kantorenschule zu Berlin“ und betrieb zudem mit seiner Frau eine Pension für die Kantorenschüler und ein koscheres Restaurant. Zudem sang er im Philharmonischen Chor Berlin.  Der damalige Chefdirigent der Berliner Philharmonie, Arthur Nikisch, war mit den Frommermanns befreundet, und sein Vater nahm den kleinen Harry regelmäßig zu den Proben der Berliner Philharmoniker mit, wo er zwischen den Musikern sitzen durfte. Dort entwickelte sich wohl sein musikalisches Gehör und sein Talent zum Imitieren der verschiedensten Instrumente. Auch privat verkehrte Nikisch gern und viel bei den Frommermanns.  Als großer Musikliebhaber sorgte Kantor Frommermann außerdem dafür dass Harry Harmonielehre, Musiktheorie und Klavierspielen (unter anderem bei Nikisch) lernte, und eine Zeitlang schien es, als wollte Harry Pianist werden. Seine Hände stellten sich jedoch als zu klein heraus. Allerdings hatte Harry bereits zu seiner Schulzeit auch seine Liebe zur Schauspielerei entdeckt und in einigen Aufführungen mitgewirkt. Ähnlich wie Erich Abraham/Collin, hatte auch er heftige Kämpfe mit seinem Vater über seinen Berufswunsch ausgefochten: Harry wollte Schauspieler werden, was Kantor Frommermann für genauso unakzeptabel hielt wie Dr. Abraham die Vorstellung, sein Sohn könnte Musiker werden.  So sorgte Alexander Frommermann in einer interessanten Parallele zu Erich Collins Schicksal dafür, dass sein Sohn nach dem Abschluss der Mittelschule 1922 eine Lehre in einem Bekleidungsgeschäft begann.

Allerdings – eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden - starb Harrys Vater im Oktober 1924, und Harry brach schnellstmöglich seine Lehre ab - bzw. wurde hinausgeworfen, auch hier sind sich verschiedene Quellen nicht ganz einig -, um sich für ein Stipendium an der Schauspielschule zu bewerben. Durch einen Zufall hatte er Jesta Nielsen, die Tochter der Schauspielerin Asta Nielsen, kennengelernt, die ihn im Haus ihrer Mutter einführte wo er wiederum andere bekannte Schauspieler kennenlernte, zum Beispiel auch Carl Ebert, der Lehrer an der Staatlichen Schauspielschule war. Nach einem Vorsprechen bei ihm erhielt Harry zum Oktober 1925 ein Stipendium als Schauspielschüler.

Unglücklicherweise wurde er bereits nach einem halben Jahr wegen Disziplinlosigkeit von der Schauspielschule verwiesen. In seinen eigenen Worten: „Ich machte zuviel Quatsch auf Jessners Schauspielschule mit ewigen Dudeleien im Stil der Revellers….“ Durch einen anderen Schauspieler, den er über Jesta Nielsen kennengelernt hatte, Alexander Granach, erhielt er kleinere Rollen an der Berliner Volksbühne, mit denen er sich über Wasser hielt.

Anfang 1927 starb seine Mutter während einer Grippe-Epidemie, und Harry war nun auf sich allein gestellt. Durch Jesta Nielsen hatte er die Platten der Revelers kennengelernt und langsam keimte in ihm der Plan, eine deutsch-sprachige Version der Gruppe zu erschaffen. Als er am 12.10.1927  einundzwanzig und damit volljährig wurde, verkaufte er den Nachlass seiner Eltern und begann wie ein Besessener ausgefeilte musikalische Partituren im Stil der Revelers für eine Gesangsgruppe zu schreiben die nur in seiner Fantasie existierte. Mit seinen „letzten 12 Mark 50” veröffentlichte er schließlich die berühmte Anzeige im Berliner Lokalanzeiger am 18.12.1927.

Abgesehen von den Auseinandersetzungen mit dem Vater über ihren Berufswunsch, hatten Harry und Erich nicht viel miteinander gemeinsam. Erich stammte aus einer gut situierten Arztfamilie und hatte studiert, darüber hinaus war er schon einige Jahre älter als Harry. Als Harry gerade 12 war, leistete Erich bereits seinen Militärdienst. Erichs Familie hatte sich vom Judentum entfernt und fühlte sich nicht im Geringsten jüdisch, während Harrys Vater eine Kantorenschule führte und sich ursprünglich wünschte, sein Sohn solle Rabbiner werden. In beiden Familien herrschte aber eine große Liebe zur Musik, und beiden wurde als Kinder die Musikalität gewissermaßen in die Wiege gelegt. In beiden Elternhäusern wurde viel, gern und oft musiziert, Harry hatte darüber hinaus die Gelegenheit, seinem Vater und dessen Freund Nikisch bei ihren Improvisationen lauschen zu dürfen. An der Religion seiner Eltern hatte er ebenso wie Erich Collin wenig beziehungsweise gar kein Interesse, was in seinem Fall jedoch zu erbitterten Konflikten führte.

Harry wohnte nach dem Tod seiner Mutter mit einem Schauspielkollegen in einer Dachwohnung in der Stubenrauchstraße 47 in Berlin. Theodor Steiner sollte der Bariton und Pianist der zukünftigen deutschen Revelers werden. Er und Harry kannten sich schon seit ihrer Kindergartenzeit, waren gemeinsam aufgewachsen und nun Bühnenkollegen, und er teilte Harrys Begeisterung für die Revelers. Gemeinsam luden sie in einem Brief vom 29. Dezember 1927 die Bewerber, die auf die Anzeige geantwortet hatten, in ihre Wohnung ein. Dieser Brief trug die Unterschrift „MELODIEMAKERS“ und war von Frommermann und Steiner unterzeichnet. Theodor Steiner war es der die Sänger auf dem Klavier begleitete, die schließlich am 3. Januar 1928 hoffnungsfroh in der Stubenrauchstrasse zum Vorsingen erschienen. 

Einer davon war Robert Biberti, Sohn eines ehemaligen Sängers am Königlichen Opernhaus der als einziger der zahlreich erschienenen Bewerber über stimmliche Qualitäten verfügte, und die Revelers ebenso verehrte wie Harry Frommermann und Theodor Steiner. Zudem war er bereit, zunächst ohne Gage zu proben, was ein entscheidendes Aufnahmekriterium war, denn eventuelle Auftritte des neu zu gründenden Ensembles standen noch in weiter Ferne.

Am 16. Januar 1928, fand, wieder auf schriftliche Einladung der Melodiemakers, die erste Probe des neuen Ensembles statt. Außer Biberti, Harry Frommermann und Theodor Steiner waren noch zwei weitere wesentlich ältere und erfahrene Schauspieler und Sänger anwesend – Louis Kaliger und Victor Max Collani, die jedoch beide schnell ersetzt wurden. Über Kaliger, geboren 1885, ist recht wenig bekannt, außer dass er in Berlin Schauspieler war, in den späten 30ern in zwei Kurzfilmen mitwirkte – in einem davon als „Stimmungssänger“ - und 1944 starb. Collani (geboren 1895) hingegen hatte an über 40 Stummfilmen mitgewirkt und trat zudem in Operetten auf, unter anderem auch am Großen Schauspielhaus. Er emigrierte 1933 in die Niederlande und lebte und arbeitete dort bis zu seinem Tod 1957. 

 Biberti, geboren am 5.6.1902 und damit einige Jahre älter und erfahrener als Harry, verdiente seinen Lebensunterhalt als Sänger im Chor des Großen Schauspielhauses. Sein Vater, aus Österreich eingewandert, war Opernsänger am Berliner Königlichen Opernhauses gewesen, hatte dann aber durch seine Alkoholsucht seine Stimme und dann sein Engagement verloren und reiste in den frühen Jahren des 20. Jahrhunderts mit einer Gesangsgruppe namens „Meistersänger-Quartett“ quer durch Europa. Seine Frau, eine gelernte Konzertpianistin, arbeitete als Korrepetitorin und begleitete Opernfilme als Pianistin (dabei trat zu einer stumm gefilmten Oper ein Orchester auf). Nach Abschluss der Oberrealschule und dem Kriegsende 1918 verdienten Vater und Sohn Biberti ihr Geld als Hersteller von kunstvollen Möbelverzierungen aus Holz, aber im Lauf der nächsten Jahre beschloss Robert, wie sein Vater Sänger zu werden. Er besaß zwar keinerlei sängerische Ausbildung, aber durch sein musikalisches Elternhaus verfügte auch er über eine gewisse Musikalität, und darüber hinaus eine samtene, angenehme Bass-Stimme. Seit 1921 war er in kleinen Rollen oder als Chorist im Theater am Nollendorfplatz, im Admiralspalast oder an der Städtischen Oper aufgetreten, später auch als „Hofsänger“ in Berliner Hinterhöfen, in Lokalen oder in Kinos zur Stummfilmuntermalung. 1925 war auch sein Vater gestorben. 1927 sang er im Chor des Großen Schauspielhauses im Singspiel „Mikado“, und zwei seiner Kollegen brachte er Anfang 1928 mit zu Harry Frommermann und Theodor Steiner - Ari Leschnikoff und Walter Nussbaum. Am 1.April 1928 gründeten in der Wohnung von Bibertis Mutter diese fünf die „Melodie Makers“ als Gesellschaft Bürgerlichen Rechts wobei Harry und Theodor Steiner als Inhaber genannt wurden. Interessant und legendär der Strafenkatalog des jungen Ensembles – das Fehlen bei einer Probe wurde mit 10% einer Tagesgage bestraft. (Offensichtlich gingen sie optimistischerweise davon aus, bald Gagen zu erhalten!) Zuspätkommen kostete zwischen einer und drei Mark. Ob es sich hier nur um eine Anekdote oder eine Tatsache handelt, ist nicht geklärt!

Über Walter Nussbaum ist erstaunlicherweise nicht viel bekannt, außer dass er in der Anfangszeit der 2. Tenor der Gruppe war, die später zu den Comedian Harmonists wurde, für sie im Jahr 1928 die ersten Verträge abschloss, bei ihren ersten Plattenaufnahmen und ihrem ersten großen Engagement dabei war und später – mehr oder weniger erfolglos, aber durchaus verständlicherweise - gegen seinen Hinauswurf klagte.

Ari Leschnikoff war am 16. Juli 1897 in der Nähe von Sofia geboren. Sein Vater, ein Postbeamter, war jung gestorben, seine Mutter, eine Lehrerin, sang viel, vor allem russische Romanzen. Als Kind sang Ari im Kirchenchor, und musste nach Abschluss des Gymnasiums 1916 auf die Militärschule gehen, weil diese kostenlos war. Für die von ihm seit seiner frühen Kindheit ersehnte Gesangsausbildung war kein Geld da. Auf der Militärschule fiel er jedoch durch seine schöne Stimme dem Dichter Christo Smirnenski und dem bekannten Militärkapellmeister und Komponisten Georgi Atanasov auf. 1918 musste er als junger Leutnant noch für kurze Zeit an die Front. Da Bulgarien mit Deutschland und Österreich verbündet war und zu den Verlierern gehörte, wurde nach dem Ende des Krieges im Jahr 1920 die Militärakademie aufgelöst. Ari erinnerte sich an Atanasov und wurde von ihm an den bekannten  Gesangslehrer Ivan Vulpe vermittelt. Schließlich beschloss Ari nach Deutschland zu gehen, um weiter zu studieren und die deutsche Kultur kennenzulernen. In Berlin arbeitete er als Kellner in einem bulgarischen Studentenwohnheim, später in einem Restaurant, wo er die Bekanntschaft von Erwin Bootz machte, der an der Musikhochschule Klavier studierte. Er bewarb sich um ein Stipendium am Stern‘schen Konservatorium, das er tatsächlich trotz seiner schlechten Deutschkenntnisse erhielt, und studierte dort die nächsten drei Jahre. 1926 erhielt er einen Vertrag als Chorsänger am Großen Schauspielhaus für das Singspiel „Mikado“ – und lernte dort Robert Biberti kennen.

Und als diese kleine Gruppe Verrückter um Harry Frommermann, die wie besessen für eine Zukunft probten, von der sie nicht sicher sein konnten, dass sie eintreffen würde, einen Pianisten brauchten, stellte ihnen Ari Leschnikoff seinen Freund Erwin Bootz vor.

Bootz stammte ursprünglich aus Stettin und war ein talentierter Pianist und unglaublich verwöhnt. Anders als die anderen musste er sich sein Studium nicht selbst finanzieren und sich nebenbei als Kellner oder Chorsänger durchschlagen, sondern erhielt großzügige Unterstützung von seiner Mutter, die alle paar Monate nach Berlin reiste und seine Schulden bezahlte. Geboren am 30. Juni 1906, war er der jüngste in der Gruppe. Seine Eltern betrieben einen Musikalienhandel und er hatte im Alter von 4 Jahren begonnen, autodidaktisch Klavier zu spielen. Mit 17 Jahren bestand er die Aufnahmeprüfung für die Musikhochschule in Berlin, wo er bis 1928 Klavier, Gesang und Kompositionslehre studierte. Er erzählt über diese Zeit:

„Und dann waren da die vielen Nächte, in denen wir improvisiert unheimlichen Zauber trieben. Wir hatten auf der Hochschule ein paar Witzbolde, die wirklich bemerkenswert waren. Auch ich war natürlich immer dabei, und machte auf Zuruf aus Opernarien oder sonstigen klassischen Musikstücken Schlager. Aus einer Bachkantate auf Wunsch einen Tango oder einen Foxtrott, das konnte ich aus dem Stegreif.

Ich war noch an der Hochschule, als mich Leschnikoff im März 1928 zu einem merkwürdigen Ensemble schleppte.“

Das „merkwürdige Ensemble“ waren die Melodie Makers – Harry Frommermann als Arrangeur (außerdem schrieb er nun zu seinen Partituren eine extra Stimme für sich selbst als Stimmen- und Intrumentenimitator), Robert Biberti als Bass, Ari Leschnikoff und Walter Nussbaum als Tenöre, und Theodor Steiner als Bariton. Der junge Erwin Bootz ergänzte sie als Pianist  und Arrangeur.

Nach einigen Wochen intensiver Proben stellte sich heraus, dass Theodor Steiner auch als Bariton nicht den künstlerischen Ansprüchen genügte die die zukünftigen deutschen Revelers an sich selber stellten. Als Pianist war er bereits durch Erwin Bootz ersetzt worden. Ein Dilemma, denn schließlich war er einer der beiden Gründer und Initiatoren der Gruppe. Es scheint dass Harry Frommermann und Robert Biberti es schafften, das Problem einigermaßen taktvoll zu lösen, denn Theodor Steiner verließ die Gruppe zum Mai 1928, blieb jedoch bis zu seinem Tod in losem Kontakt zu Harry.

Als Ersatz brachte wiederum Ari Leschnikoff einen Freund vom Chor des Großen Schauspielhauses in die Gruppe – Roman Cycowski, der damals bereits ein ereignisreiches Leben hinter sich hatte.

Am 25. Januar 1901 in Lodz in Russisch-Polen geboren, stammte Josef Roman Cycowski aus einer orthodox jüdischen Familie. Sein Vater besaß eine kleine Spinnereifabrik. Er sprach drei Sprachen obwohl es den Juden damals verboten war, zur Schule zu gehen. Bereits als Kind machte Roman unerfreuliche Bekanntschaft mit anti-semitischen Anfeindungen, und war deshalb als Junge nur selten außerhalb des großen Hofes unterwegs, den seine Familie mit anderen jüdischen Familien teilte. Im Jahr 1906 kam es zu einem Aufstand der Polen gegen die Russen, und der kleine Roman schnappte einige anti-russische Revolutionslieder auf die er mit großer Begeisterung - und auch zur Begeisterung seiner polnischen Altersgenossen - sang.  In der Familie gab es einige Rabbiner, und sein Vater wünschte sich, dass auch Roman Rabbi werden sollte – Roman aber wollte singen. Mittlerweile hatte er begonnen in Chören zu singen und verdiente damit sogar etwas Geld. So einigte er sich mit seinem Vater darauf, Kantor werden zu dürfen, und besuchte ab 1909 die Talmudischule in Pjotrkow. Sein Talent fiel einem Lehrer dort auf, als er Roman einmal von der Straße aus singen hörte – was ungünstig war, da die russische Verwaltung damals hohe Gebühren für den Betrieb solcher Schulen verlangte, und sie somit oft heimlich betrieben wurden. Der Lehrer schimpfte Roman aus und bat dann seinen Vater darum, ihn an den Feiertagen im Tempel singen zu lassen.

Von da an wurde Roman vom Kantor in Notenlesen, Musiktheorie und Harmonielehre unterrichtet. Außerdem dirigierte und sang er im Chor. 

Mit Kriegsbeginn wurde die Schule geschlossen, und Roman kehrte zu seiner Familie zurück, wo er beinahe an Typhus gestorben wäre. Während der ersten Offensive der Deutschen gegen Russland wurde die kleine Fabrik seines Vaters zerstört, wovon er sich nie mehr erholte. Mit der deutschen Besatzung kamen bessere Zeiten – die Kinder durften wieder zur Schule gehen, und allgemein hatten die Juden mehr Rechte als unter den Russen.  Roman lernte Deutsch und Polnisch, und las mit Begeisterung deutsche Klassiker und Philosophen. Er entwickelte eine weltliche, moderne Einstellung die ihn geistig von seinem Elternhaus entfernte. Über zwei Jahre lang war bei seiner Familie ein deutscher Offizier einquartiert, laut Roman „ein wunderbarer Mann“  von dem er viel lernte.

Er machte außerdem die Bekanntschaft eines russisch-jüdischen Komponisten namens Silvers, der ihn in Harmonielehre unterrichtete.

Mit dem Kriegsende verließen die Deutschen Lodz, und es kam zu Gewalttaten der Sieger gegen deutsche Soldaten und Offiziere. Romans Vater gab dem bei den Cycowskis einquartierten Offizier andere Kleidung und brachte ihn sicher zur Grenze.

Die bittere Armut, die in der ersten Nachkriegszeit nach der Gründung der Polnischen Republik herrschte, führte zu einem Pogrom in Lodz. Roman beschloss sich freiwillig beim polnischen Militär zu verpflichten weil er glaubte, es als Freiwilliger leichter zu haben als ein gewöhnlicher Wehrpflichtiger, aber er musste auch in der polnischen Armee Erfahrungen mit Antisemitismus und Anfeindungen machen, so dass er sich entschloss, den Dienst vorzeitig zu beenden.

Kurze Zeit darauf beschloss er, Polen zu verlassen und nach Deutschland zu gehen um Musik zu studieren. Sein Vater war einerseits unglücklich darüber, ihn zu verlieren – er rechnete damit ihn nie wieder zu sehen, und so geschah es dann auch – aber ermutigte ihn dennoch „dort ist Kultur, dort wirst du etwas lernen“.

1920 verließ Roman Polen mit den Papieren eines verstorbenen Cousins, denn unter seinem echten Namen hätte er nicht ausreisen dürfen, da er seine Wehrpflicht noch nicht erfüllt hatte.

Seine erste Station in Deutschland war Beuthen, wo er sich beim Kantor der dortigen Synagoge meldete und als Sänger und Dirigent angestellt wurde. Da die Bezahlung dafür sehr gering war, arbeitete er außerdem in einem Eisenwarengeschäft, um Geld für sein geplantes Studium zu verdienen. Eine der Angestellten dort hörte ihn bei der Arbeit singen und schlug ihm vor, sich beim Stadttheater zu bewerben. Roman, der nicht wusste, was ein „Stadttheater“ war, keine deutschen Lieder kannte und nichts Vernünftiges zum Anziehen hatte, bekam durch die Vermittlung dieser jungen Frau einen Termin zum Vorsingen, und sang ein paar hebräische Kantoratsgesänge, die er auf die Frage „was ist denn das?“ als „orientalisch“ verkaufte. Er überzeugte den Kapellmeister von seinem Können, der Kapellmeister überzeugte den Direktor, und so wurde Roman Sänger am Theater in Beuthen. Nach einigen Monaten begann er auch am dortigen Konservatorium Gesang zu studieren. Seine Kollegen am Theater halfen ihm dabei, sein Deutsch zu verbessern und insbesondere akzentfrei sprechen zu können, was für die Bühne notwendig war. Roman nannte sich damals „Fritz Mühlstein“.

Sein weiterer Weg führte ihn über das Sommertheater in Zoppot und die Danziger Oper nach Stralsund, wo er in deutschen und italienischen Opern Rollen als lyrischer Bariton sang, aber auch in Schauspielaufführungen mitwirkte und nebenbei bei einem Kammersänger namens Eppert studierte. Er lebte in dieser Zeit bei einem ehemaligen deutschen Offizier, an dessen Familie er sich sehr eng anschloss.

Es folgten Engagements in Bad Oeynhausen, Guben in Niederschlesien, Cottbus und Rostock. 1926 beschloss er nach Berlin zu gehen um dort bei dem bekannten Gesangslehrer Max Barth zu studieren. Sein künstlerischer Ehrgeiz war groß und er war von der Oper förmlich besessen. Um sein Gesangsstudium zu finanzieren, trat er als Sänger in Kinos auf, um Stummfilme zu begleiten, mal mit Orchester, mal mit Piano, mal mit Gesangsquartett, oft solo. 

Als er sich 1926 beim polnischen Konsulat meldete, um einen neuen Pass zu beantragen, teilte man ihm dort mit dass er nach Polen zurückkehren müsse, um seinen Militärdienst abzuleisten. Als er das ablehnte, wurde ihm die polnische Staatsangehörigkeit aberkannt, und Roman wurde staatenlos. Spätere Reisen mit den Comedian Harmonists konnten dadurch gelegentlich etwas nervenaufreibend sein.

Eine Zeitlang arbeitete Roman als Kantor in Dresden, was ihn aber nicht befriedigte, da er sich nach der Bühne sehnte. Ein befreundeter Rabbiner den er aus seiner Zeit in Guben kannte, organisierte über die dortige jüdische Gemeinde ein Konzert in Guben zu Romans Gunsten, bei dem genügend Geld aufgebracht wurde um Roman ein sechsmonatiges Gesangsstudium bei Stracciari in Mailand zu ermöglichen. Als er im Sommer 1927 von dort zurückkam, erhielt er ein Engagement als Chorsänger im Großen Schauspielhaus, wo er wie Robert Biberti, Ari Leschnikoff und vermutlich auch Walter Nussbaum im Chor bei dem Singspiel „Mikado“ mitwirkte. Er freundete sich besonders mit Ari Leschnikoff an, der wie Roman Russisch sprach und viel mehr mit der deutschen Sprache zu kämpfen hatte als Roman, ein Grund dafür, weshalb er oft das Opfer von Bibertis „Späßen“ wurde.

Im März 1928 endete das Mikado-Engagement und Roman arbeitete erneut als Sänger in Stummfilmkinos, als Robert Biberti (nach einigen Quellen war es Leschnikoff) ihn zu den damaligen Melodie Makers brachte. Anders als Harry und Robert Biberti, war Roman weder an Jazz noch an den Revelers interessiert, er war besessen von der Oper und hauptsächlich von dem Gedanken motiviert, Geld zu verdienen, um später wieder an die Oper zurückzukehren.

Nach Monaten des Probens hatte das erste Vorsingen der Gruppe Ende März 1928 in der Berliner Scala in einer Katastrophe geendet und ihnen das vernichtende Urteil „das ist wohl mehr etwas für ein Beerdigungsinstitut“ eingebracht. 

Wenige Monate später erhielt die Gruppe jedoch nach einem Vorsingen im Großen Schauspielhaus – wo einige von ihnen noch immer im Chor sangen – ein Engagement als Pausenfüller für die Revue „Casanova“, und zugleich auch einen neuen Namen – die Comedian Harmonists.


© Martina Wunsch 2020 und 2024


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